Textbeitrag für das Internationale Kulturhistorische Symbosion Mogersdorf, "Karge Kost und Herrschaftstafel. Zur Ernährungssituation im pannonischen Raum"

 

 

Vom „Zigeunerschnitzel“ bis zum Igelgulasch. Über Stereotypen in der Küche der Roma – ein kulturhistorischer Abriss

 

In diesem Beitrag soll anhand von zwei klassischen und dabei doch gegensätzlichen Speisen – das Zigeunerschnitzel und das Igelgulasch – verdeutlicht werden, welchen stereotypen Darstellungsweisen die Volksgruppe der Roma immer wieder unterlegen ist und immer noch unterliegt. Es sind zwei Beispiele, die die Ambivalenz widerspiegeln, mit der Roma von je her behandelt wurden: Auf der einen Seite wurden sie romantisiert und waren in der Literatur und anderen Kunstformen über Jahrhunderte Sinnbild für Freiheit, Wildheit, Exotik und freie Sexualität auf der anderen Seite wurde sie seit ihrem Auftreten in Europa verfolgt, diskriminiert und ermordet.

Doch beginnen wir am Anfang, um zu verstehen, wie der „Zigeuner“ Stück für Stück zum Produkt gemacht wurde:

 

Schon kurz nach der Ankunft der Roma in Europa, wurden sie verfolgt, diskriminiert, versklavt und ermordet. In Rumänien zum Beispiel, waren sie vom Jahr 1400 bis 1891 Sklaven. In Spanien wurden ab 1499 die Bewohner zur Jagd auf die Roma aufgehetzt. Der Beginn dieser Jagd wurde durch das Läuten der Kirchturmglocken festgelegt. Sowohl die Bevölkerung als auch die Obrigkeiten sahen in dem Wandervolk eine Bedrohung. Die Menschen hatten Angst vor dem Fremden, einer anderen Kultur, mit der sie nichts anfangen konnten. Gerüchte, dass die Roma kriminell und Träger von Krankheiten seien verbreiteten sich schnell und wurden – unter anderem in der Literatur - stark propagiert.

 

 Vor allem das ausgeprägte religiöse Denken in der damaligen Zeit führte zu noch mehr Intoleranz. Das Heidentum, der Glaube an Naturgeister und das unstete Leben, brachte den Roma bald den Ruf ein, dass sie Wahrsager und Hexen seien. Sie zählten nun zu jener „Schicht“, die Kirche und Staat ein Dorn im Auge war. Manche Chronisten gingen sogar so weit, biblische Ursachen für das „Anderssein“ dieser „Fremden“ zu finden.

 

Erst im Jahr 1971 wurde durch die International Roma Union (IRU) und dem ersten Romani-Kongress festgelegt, dass Roma die Bezeichnung für die Minderheit, die aus verschiedenen Stämmen besteht, ist. Der Name „Roma“ stammt aus dem Romanes und ist somit eine Selbstbezeichnung, im Gegensatz zu der negativ behafteten Fremdbezeichnung „Zigeuner“. Roma bedeutet auf Deutsch Menschen. Es muss bei Texten natürlich unterschieden werden zu welchem Zeitpunkt dieser entstanden ist, denn es lässt sich auch in manchen Werken, die eigentlich der Aufklärung dienen und der Diskriminierung der Roma entgegenwirken sollten, die Fremdbezeichnung finden – und natürlich setzte sich der Begriff Roma nicht sofort durch. Dass sich der Begriff bis heute nicht von den Speisekarten vertreiben lässt, fällt nicht in diese Zuordnung.

 

 Der Begriff „Zigeuner“ war bis ins 18. Jahrhundert eine Art Überbegriff für nicht sesshafte, verarmte Minderheiten und erst später entwickelte sich dieser Begriff, als Name für die Volksgruppe der Roma.

 

 Einen ersten grausamen Höhepunkt erreichten die Verfolgungen im 17. und 18. Jahrhundert, welche gekennzeichnet waren durch Erschießungen, Erhängungen und Folter. Es wurden sogar Kopfprämien für jeden getöteten Rom ausgezahlt. Im 19. Jahrhundert bekam die Bezeichnung „Zigeuner“ immer mehr biologisch-rassistische Konturen und weitere 150 Verordnungen gegen Roma folgten ab dem Jahre 1900. Im Nationalsozialismus wurde die Ermordung der Roma und Sinti industrialisiert. Insgesamt wurden über eine halbe Million ermordet. 80% der in Österreich lebenden Roma und Sinti wurden in Konzentrationslagern und Arbeitslagern getötet.

 

 Besonders beliebt waren die Beschreibungen der Roma in der Romantik – die deshalb auch oft als „Zigeunerromantik“ bezeichnet wird. Der „Zigeuner“ steht hierbei für die Naturverbundenheit, das Andere – das Exotische und vor allem als Gegensatz zum Bürgertum.

 

 „Ihre ‚gesellschaftliche Konstruktion’ als soziale und ethnische Außenseiter, als Träger einer unveränderlichen Fremdheit, als Symbol des Nicht-kulturierbaren, Wilden, und – nicht zuletzt – als Repräsentanten der Natur macht sie zu einem romantischen Thema par exellence, das überdies durch die Vielfalt der in der Diskussion über sie aufgeworfenen historischen Unklarheiten, Herkunftsspekulationen und Deutungen eine künstlerische Herausforderung bietet.“ [1]

 

 Diese „historischen Unklarheiten“ sind jener fruchtbare Boden, der den Autoren die Möglichkeit bot, ihr Konstrukt des „Zigeuners“ zu erschaffen.

 Dieses Phänomen ist jedoch nicht nur in der Literatur, sondern auch bei Speisenbezeichnungen - dazu später mehr - und auch bei Songtexten vor allem in der Schlager- und Popmusik zu beobachten. In den fünfziger Jahren des 20 Jahrhunderts, gab es zahlreiche Lieder in diesen Genres, die nur kurze Zeit nach dem Völkermord an Roma und Sinti, wieder die alten Stereotype von Wildheit und Freiheitsliebe beinhalteten. Es wurden wieder die gleichen Bilder wie in der „Zigeunerromantik“ verwendet, die man bis dahin schon aus der Literatur und Operetten kannte.

 

Das „Zigeuner sein“ wurde zu einer Art Lebensstil deklariert, ob dies etwas mit dem Leben der Roma und Sinti zu tun hatte oder hat, war und ist dabei nebensächlich.  Eine ähnliche Entwicklung lässt sich zeitgleich im Burgenland festmachen: Hierzu ein Auszug aus dem Blog von Herbert Brettl, der schreibt:

 

 „Während „Zigeuner“ auch nach 1945 weiterhin stigmatisiert, diskriminiert und unerwünscht waren, setzte der zunehmend expandierende Burgenlandtourismus auf den „Zigeunerflair“. Zigeunerschnitzel, Zigeunerspieß, Zigeunerbaron oder Zigeunermusik durften da nicht fehlen. Mitunter bediente man sich auch „unechter Zigeuner“, um die Gäste bei Laune zu halten.

 Der Polyglott Reiseführer beschreibt das Burgenland unter anderen: ‚Charakteristisch für das Burgenland sind u. a. die Gaststätten und Weinlokale in traditionellen alten ‚Scheunen‘, in ‚Pußtakellern‘, in ‚Reitställen‘ usw., wo zur Unterhaltung der Gäste Stimmungsmusik und Zigeunermusik geboten wird. Die dort auftretenden „Zigeuner” sind nur selten „echt”, doch sind sie wegen ihrer malerischen (meist ungarischen) Trachten und der ausgezeichnet dargebotenen Zigeunermusik sehr beliebt. Zigeunermusik und Zigeunerlieder kann man (neben ungarischen Volksliedern) u. a. hören in Illmitz, Mörbisch, Oslip, Podendorf, Purbach, Rust, St. Margarethen, Wallern, Eisenstadt, Bad Tatzmannsdorf. Dort und auch in zahlreichen anderen Orten wird auch Stimmungs- und Unterhaltungsmusik geboten. Bekannt sind u. a. auch die zweimal wöchentlich stattfindenden ‚Pußtanächte‘ von Wallern, mit Tamburizza-(kroatisch) und Zigeunermusik.‘

(Polyglott Reiseführer Burgenland; München 1974 S. 16)

Kurze Anmerkung: Im Dorf Wallern lebten nie Kroaten und vor 1940 lebte in Wallern ein Roma.“ [2]

 

Eine Entwicklung die auch in meinen Recherchen zum Thema „Zigeunerschnitzel“ deutlich wurde, denn im 19. Jahrhundert, bis Mitte des 20. Jahrhunderts, ließen sich keine Spuren über ein „Zigeunerschnitzel“ finden. Es gibt zwar ähnliche und identische Rezepte, diese werden aber als „Schnitzel mit Paprikasauce“ oder ähnliches bezeichnet. Das heißt man kann hier festhalten, dass auch die Küche, nach der Literatur und der Populärmusik, die „Zigeuner“ wieder einmal neu erfunden hat. Denn „Zigeuner“ steht in der Kulinarik meist für feurig und pikant und erzeugt damit gleich ein altbekanntes und ebenso falsches Bild. Und vor allem auch, dass „das Zigeunerschnitzel“ auf keinen Fall etwas ist, dass aus der Küche der Roma oder Sinti, scheint beinahe unwichtig zu sein.

 Ein weiterer Begriff, der seit dem 19.Jahrhundert in der Küchensprache gebräuchlich ist, ist „à la zingara“ italienisch für zigeunerisch. Dies bezeichnet traditionellerweise in der klassischen Küche eine bunte Garnitur. Angelehnt an die bunte Kleidung der Roma-Mädchen. Eine Sichtweise die vermutlich unter anderem von der Oper Carmen (1875) von Georges Bizet herrührt, in der die Roma-Frauen und Mädchen sehr bunte Kleidung tragen, die von da an das Bild der Roma wieder auf eine stereotype Art und Weise prägte.

 Kommen wir nun zur Romaküche selbst. Eine traditionelle Romaküche gibt es im herkömmlichen Sinne nicht, da die Speisen immer von der jeweiligen Nationalität der Volksgruppe geprägt sind. So gehört das Letscho Beispielsweise ebenso zur Roma- wie aber auch zur ungarischen Küche.

Im Burgenland sammelt der Romaverein „Roma Service“ in Oberwart, seit 2009 traditionelle Rezepte der Burgenlandroma, hier ein Auszug:

 

Kartoffel-Grammelwurst mit Sauerkraut, Szegediner, Kartoffelgulasch, Rahmbohnensuppe und Bohnensterz, Paradeiserkraut mit Kartoffelröster, Kartoffelsuppe, Letscho, Schweinsmagerlsuppe, Linsen mit Geselchten, Kraut- und Erdäpfelstrudel, …

 

Sehr ähnliche Rezepte lassen auch in traditionellen Kochbüchern des Burgenlandes finden. Rezepte aus einfachen und billigen Zutaten. So wie es bei vielen armen Familien der Fall war, wurden vor allem Hülsenfrüchte, Kartoffeln und Innereien verkocht. Dinge, die man sich eben leisten konnte.

 

Die Armut ist ein Umstand, der mich nun zum Igelgulasch kommen lässt. Das Igelgulasch ist Stereotyp und gleichermaßen Realität. Heute wird die eben genannte Speise immer noch jedem Rom/Romni angedichtet. Dass Roma Igel gegessen haben bleibt unbestritten – jedoch nicht aus dem Grund, den man im ersten Moment vermuten mag. Hierzu ein Auszug aus dem 2019 erschienen Buch „Bleib stark“ der Linzer Sintiza Rosa Gitta Martl, nachdem sie von ihrem Vater berichtet, der ein guter Igeljäger war.

 

„Den Sinti war es ja an sich von jeher verboten zu jagen. Nur Niederwild, das sonst keinen interessierte, stand nicht auf der langen Liste der vor Zigeunern geschützten Arten. Dazu gehörte auch der Igel, der im Laufe der Jahrhunderte deshalb zu einer wahren Sintispezialität wurde. Ich erinnere mich an ein altes Lied, das davon handelt:

 Geh ich in den Wald hinein, suche ich einen schönen Igel,

 wenn ich den Igel gefunden hab, dann gehe ich nach hause,

 zuhause entferne ich seine Stachel,

 und dann kocht ihn meine Frau,

 dann gibt sie noch Knoblauch darauf, und wir essen ihn.

 Am anderen Tag gehe ich wieder,

 finde ich ja wieder, ja wieder,

 dann finde ich die Igel,

 und dann machen wir das gleiche mit ihnen.

 Igel, Igel, versteckt euch draußen beim Wasser,

 sonst erwischen wir euch, ja wir essen euch, ja, ja

 Igel, Igel versteckt euch draußen beim schönen Wasser,

 sonst essen wir euch, darum versteckt ihr euch.„[3]

 

 

Im Standard erschien 2010 ein Interview mit der Roma Aktivistin Esméralda Romanez, die Einblicke in die traditionelle französische Roma Küche gibt. Auch sie berichtet von Igel Rezepten und das diese durchaus aus Spezialität der Roma Küche gilt. Laut ihrer Aussage hat das Tier für viele Roma auch einen symbolischen Charakter:

 „Es geht darum, die Eigenschaften des Tiers aufzunehmen: seine Unabhängigkeit, seine Fähigkeit, sich zwecks Verteidigung einzurollen – und seine Kampflust. Er ist ein ziemlich kämpferischer Bursche, müssen Sie wissen.“[4]

 

Mag es auch so sein, dass viele Roma aus der Not heraus und später, weil man daran Geschmack gefunden hat, den Igel jagten und verzehrten, so ist mittlerweile daraus wieder ein Umstand geworden, der jedem mit entsprechender Herkunft angedichtet wird. Ebenso wie das freiheitsliebende, das feurige und das asoziale. Genau dieser Umstand bringt mich nun zum Fazit dieses Themas: Bei der Volksgruppe der Roma wurde über Jahrhunderte etwas angedichtet und verallgemeinert. Wie können bestimmte Eigenschaften stellvertretend für ein ganzes Volk stehen? Wir wissen, dass es über jede Nationalität Vorurteile gibt: Österreicher tragen Lederhosen und essen gerne Schnitzel, Franzosen wiederum Froschschenkel, Deutsche sind genau und pünktlich, usw. Wir wissen allerdings aus der Realität, dass dem nicht so ist und es sich lediglich um Vorurteile handelt. Bei den Roma, vermutlich weil sie selbst lange keine Stimme hatten, um klarzustellen und aufzuklären, ist dies noch nicht der Fall. Es wird weiterhin angedichtet und verallgemeinert. Das Zigeunerschnitzel wird nicht so schnell von der Speisekarte verschwinden, obwohl es seit Jahren diverse Aktionen gegen das Wort „Zigeuner“ gibt. Von Romnia wird immer noch erwartet werden, dass sie aussehen wie eine Carmen oder eine Esmeralda. Es wird weiterhin vorausgesetzt werden, dass wir alle gute Musiker, freiheitsliebend, ungebildet und wild sind. Das wird sich erst verändern, wenn mehr Roma aufzeigen, dass dem nicht so ist.

 

2013 forderte das Forum für Roma und Sinti in Hannover die Hersteller einer sogenannten „Zigeunersauce“ auf den Namen zu ändern, da man diesen als rassistisch und diskriminierend empfindet. Nach kurzer Recherche ließ sich feststellen, dass beinahe jeder größere Produzent von Fertigsaucen eine „Zigeunersauce“ im Sortiment anbietet. Bis heute hat sich in dieser Angelegenheit nichts getan. Die Begründung: Der Konzern argumentierte mit einer über 100 Jahre alten Tradition dieser Bezeichnung. Auch hier lässt sich der Beginn der Bezeichnung zu Beginn des 20 Jahrhunderts festmachen. Laut eigener Aussage werden die Saucen aus Tomaten, Paprika, Zwiebeln du Essig hergestellt. Die Verbraucher verbinden mit diesem Geschmack Schärfe und „ungarisches Aroma“. Was vor einigen Jahren zur Verbannung der Wörter „Negerkuss“ oder „Mohr im Hemd“ führte scheint bei dieser Thematik noch nicht in Sicht zu sein. Es geht um ein Bewusstwerden der Sprache und darum, dass wenn ein Begriff der rassistisch konnotiert ist, vor allem, weil er von den Nationalsozialisten geprägt wurde und sich Menschen mit entsprechender Abstammung dadurch verletzt fühlen, nicht als Lappalie abgetan werden darf und schon gar nichts auf Speisekarten und in der Küchensprache verloren hat.

Schließen möchte ich nun mit einem Gedicht des deutschen Sinto Lolotz Birkenfelder, der in dem Text „Bruder“ seine Stimme erhebt: Das Gedicht entstand 1979 für das Buch Zigeuner heute.

 

Bruder, welchen Preis habe ich nicht bezahlen müssen!

 Ihr habt mein Wesen gestohlen,

Mir mein Bewusstsein vernichtet

Und meine Zunge gelähmt,

Um mich zu demütigen und von den anderen zu trennen.

Meine Kultur wollt ihr begraben,

Meine Lebensweise bestimmen,

So dass ich schließlich nicht mehr weiß, wer ich selbst bin.

 

Bruder, welchen Preis müssen wir bezahlen!

Ihr habt mich zum Gespött der Welt gemacht.

Ihr reißt eure Witze auf meine Kosten.

Es ist das Zwanzigste Jahrhundert

Und ihr solltet mit der Zeit gehen.

 

Bruder, welchen Preis müssen wir noch bezahlen!

Knochen und Asche von 500 000 Menschen

Liegen zerstreut in der Erde.

Bruder, wir sind in Deutschland geboren.

Vater, Mutter, Großvater, Urgroßvater sind hier geboren.

700 Jahre geknechtet und verfolgt.

Und noch immer bist du kein Deutscher.

 

Bruder, welch ein Preis!

Bruder, dein Name ist auf der Speisekarte.

Mit deinem Namen machen sie deutsche Kultur.

Opern, Operetten und Theater spielen sie mit deinem Namen.

Kaiser, Könige und Staatsmänner lieben deine Musik.

Aber dich und deine Lebensart wollen sie nicht anerkennen.

 

Bruder, wir wollen keinen Preis mehr bezahlen!

Bruder, in den Hochhäusern, in die sich dich verbannt haben,

Wird deine weinende Geige verstummen.

Bruder, lege dich hin - du bist tot! [5]

 

 

 

[1] Kugler, Stefani: Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des ‚Zigeuners’ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2004. (Literatur, Imagination, Realität; Bd. 34). Seite 113-114

[2] https://www.brettl.at/blog/unechte-zigeuner/

[3] Martl, Rosa Gitta: Bleib stark. Edition pen Band 123, Wien, 2019. Seite 54-55

[4] „Kraut und Igel“ von Georg Desrues/Der Standard/rondo/01/10/2010: https://derstandard.at/1577837023797/Kueche-der-Roma-Kraut-und-Igel

[5] Birkenfelder Lolotz: „Bruder“ in: Geigges, Anita und Wette, W. Bernhard: Zigeuner heute: Verfolgung und Diskriminierung in der BRD; eine Anklageschrift. Mit einem Vorwort von Eugen Kogon und Grusswort von Yul Brunner. 1. Auflage. Borneheim-Merten: Lamuv-Verlag, 1979. Seite 41

 

 

 

 

Gedenken

 

Von Katharina Janoska

erschienen im Blattwerk Nr. 8

 

 

 

In diesem Jahr gab es viele Gedenkveranstaltungen, 100 Jahre Republik Österreich, 80 Jahre Anschluss an Hitler-Deutschland, 70 Jahre internationale Menschenrechte für die Republik und 25 Jahre Anerkennung der Roma als Volksgruppe, um nur einige zu nennen.

 

Vor 80 Jahren ging die Demokratie und Menschlichkeit in Österreich verloren, 10 Jahre später war es an der Zeit die Menschenrechte international zu verankern. Der Schrecken des Nationalsozialismus saß noch tief in den Knochen.

 

1993 wurden die Roma nach einem langen Kampf für Gleichberechtigung endlich als Volksgruppe anerkannt. Nur zwei Jahre später wurde diese, durch das rassistisch motivierte Bombenattentat von Oberwart, bei dem 4 junge Roma ums Leben kamen, in Frage gestellt. Es vergingen wieder viele Jahre, bevor Roma diese Anerkennung nicht nur auf dem Papier sondern auch in der Realität zu spüren bekamen. Es waren schwierige Jahre und einige liegen mit Sicherheit noch vor uns.

 

Vor allem haben wir aber in diesem Jahr dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte gedacht und den zahlreichen Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden.   Das ist gut, es zeigt, dass sich manche der Geschichte bewusst sind, im positiven als auch im negativen Sinne. In diesem Jahr gab es aber auch Aussagen und Entscheidungen von Politikern und einem Teil der Gesellschaft, die an genau jene Zeit erinnern, derer Opfer wir heute gedenken.

 

Ich lebe im nördlichen Burgenland, in einem Gebiet, in dem an jene Menschen, die, die selbe Abstammung haben wie ich, und die aufgrund dieser verfolgt und ermordet wurden, kaum erinnert wird. Die Roma sind aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden auch weil es hier kaum noch Roma-Familien gibt. In vielen Ortschaften, gab es Romasiedlungen. Sesshafte Roma, die Teil der Gesellschaft waren und trotzdem weiß dies kaum jemand. Es gibt kaum Gedenkstätten, teilweise wurden die Roma lange aus den Chroniken verbannt. Es gibt Orte, in denen man sich, aus Angst vor rassistischen Schmierereien, immer noch nicht traut eine Tafel zu errichten. Wie kann das sein? Manche mögen sagen: „Was ändert schon eine Tafel oder ein Stein?“ Das sind wohl eben jene, die sich die Frage stellen: „Was kann ich schon ändern?“. Es ist eben nicht nur ein Gegenstand, sondern der Gedanke und die Haltung dahinter, die Hoffnung geben. Hoffnung darauf, dass man nicht vergisst. Vergessen bedeutet ignorieren, ignorieren bedeutet wegschauen und wohin das führt wissen wir.

 

Im Duden wird jemanden gedenken als „an etwas ehrend, anerkennend zurück denken“ bzw.  „sich an dessen Existenz erinnern“ definiert. Ist es nicht unsere Pflicht an jene zu erinnern, die Ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen können und jene zu ehren, deren Würde zu Lebzeiten genommen wurde?

 

Natürlich muss man sich erinnern, man muss gedenken. Viele Menschen wurden im Nationalsozialismus ermordet, ohne, dass man heute genau weiß, wer sie waren. Da ihnen der Wert ihres Lebens durch eine menschenverachtende Ideologie genommen wurde, ist es unsere Aufgabe uns an ihre Existenz und an ihr Leben als Mensch zu erinnern. Egal ob in Form von Tafeln, Steinen, Gedichten, Lieder,… wir müssen uns erinnern, wir müssen uns besinnen.  

 

Wir stehen gerade wiedermal an einem Wendepunkt in unserer Gesellschaft. Der Rassismus hat Einzug in den Alltag gehalten und wir müssen uns wieder entscheiden, welche Art von Mensch wir sein wollen. Stehen wir schulterzuckend daneben und denken uns „Naja, so schlimm ist das auch nicht“ oder „Das wird schon wieder“ oder erinnern wir uns, wo uns dieser Weg schon einmal hingeführt hat. Gedenken ist heute wichtiger denn je, die zahlreichen Menschen, die einen grausamen Tod fanden haben keine Stimme mehr, um uns zu warnen von den Untaten zu berichten und uns zu sagen : „Bitte lasst es nie wieder zu, was sie uns antaten!“. Auch die Überlebenden, die Zeitzeugen, werden weniger. Die, die das Grauen erlebt und überlebt haben, können bald nicht mehr selbst davon berichten. Wir müssen dies weitertragen und ihre Botschaft lauthals hinausschreien. Es reicht kein Fingerzeig mehr.

 

 

 

Mit dem Gedenken beginnt es, diesem müssen aber auch Taten folgen. Oft höre ich den Satz „So etwas wie damals, kann nie wieder passieren!“, können wir uns da so sicher sein? Ich stamme aus einer Volksgruppe, denen diese Frage leider allzu oft schmerzlich durch den Kopf kreist. Die Antwort darauf weiß ich nicht, doch die Zeichen sind da.

 

Menschen die vor Krieg und Terror flüchten sterben auf dem Weg in ein besseres Leben. Können Sie sie noch sehen die Bilder von ertrunkenen Flüchtlingen? Von verhungernden Kindern? Von Kriegsopfern?  Man sieht weg, man will sich mit diesem Grauen nicht befassen. Werden wir auch einmal ihrer Gedenken? Werden unsere Kinder und Kindeskinder einmal Steine, Tafeln, usw. errichten um an die tausenden Menschen zu erinnern, die starben weil sie sich und ihre Familie retten, weil sie nicht im Krieg leben wollten?

 

Wir erinnern an die Kriegsopfer, eben nur 80 Jahre später. Vielleicht kann der Mensch sich mit so einem Grauen erst dann auseinandersetzen, wenn genug Zeit vergangen ist und die nötige Distanz geschaffen wurde, um nicht mehr als schuldig zu gelten. Im Moment sind wir es. Wir sind schuldig, weg zu sehen und abgestumpft zu sein. Uns berührt es doch gar nicht mehr, immerhin haben wir ja alle unsere eigenen Probleme.

 

Als meine Familie 1972 aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich flüchtete, hatte sie nichts, bis auf die Kleider, die sie am Körper trug. Die Österreicher waren ungeheuer hilfsbereit, jeden Tag kam jemand und brachte Kleidung oder Essen. Nie hatte jemand aus meiner Familie das Gefühl unerwünscht oder nicht willkommen zu sein. Die Menschen wussten, was es heißt vor einem Regime zu flüchten, sie wussten, dass keiner freiwillig seine Heimat verlässt. Doch heute? Die Menschen stehen dem Wort „Flüchtling“ grundsätzlich, skeptisch gegenüber. Reden wir von einem Kriegsflüchtling? Na gut, der kann immer noch Terrorist sein. Reden wir von einem Wirtschaftsflüchtling? Also, da gibt’s ja wirklich keinen Grund zu flüchten, außerdem hat er ein Handy, so schlecht kann es dem nicht gehen.

 

Wo ist das Mitgefühl geblieben, dass so viele aufbringen können, wenn sie heute vor einer Gedenktafel stehen aber nicht wenn sie Bilder von Krieg und Zerstörung sehen? Weil es eine andere Kultur, eine andere Religion, ein anderer Kontinent ist – weil es nicht „unsere Leut“ sind? Mögen unsere Kinder uns verzeihen.

 

Wenn man mich also fragt, wie wichtig Gedenken in der heutigen Zeit ist, sage ich als Autorin, als Romni, als Mensch: Es ist verdammt wichtig und wir dürfen niemals damit aufhören uns zu erinnern. An die Opfer, an die Täter, an jene die all dies zulassen konnten und uns immer wieder die Frage stellen, ob wir nicht auch mittlerweile zu genau jenen gehören, die all dies zulassen.

 

Copyright © Katharina Janoska

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